Ein Gastbeitrag von Oliviero Angeli
Deutschland lasse jeden rein – und die können hier dann auf der faulen Haut liegen: Die Annahme, Flüchtlinge würden durch allzu humane Behandlung erst zu ihrer Reise motiviert, ist weitverbreitet. Richtig ist sie nicht.
Manche nennen es ‚Sogwirkung‘, andere sprechen von einem ‚Pull-Effekt‘ – gemeint ist das Gleiche: Wir locken unfreiwillig Menschen nach Deutschland. Menschen würden wegen hierzulande höherer Sozialleistungen nach Deutschland kommen. Von Wohlfahrtsmagneten oder (noch plakativer) von ’sozialen Hängematten‘ ist die Rede.
Im Zusammenhang mit der ‚Flüchtlingskrise‘ hat sich auch ein anderer Vorwurf nachhaltig eingebrannt: Kanzlerin Merkel habe mit ihrer ‚Willkommenskultur‘ eine Sogwirkung unter den Flüchtlingen entfaltet und die Zahl der Ankömmlinge drastisch gesteigert. Später wurde auch dem UN-Migrationspakt eine starke Sogkraft attestiert. Und jüngst sieht sich auch die private Seenotrettung dem Vorwurf ausgesetzt, als Lockvogel für Flüchtlinge im Mittelmeerraum zu dienen. Auch als Merkel am vergangenen Wochenende die Wiederaufnahme der EU-Rettungsmission ins Spiel brachte, war der Grundtenor der Kritik ähnlich: Flüchtlinge würden sich nur deshalb auf den Weg nach Europa machen, weil sie wüssten, dass Marineschiffe sie aus dem Wasser ziehen und zur Weiterreise nach Europa verhelfen.
Was ist an diesen Vorwürfen dran? Zunächst einmal zeugen sie von Selbstüberschätzung – bei gleichzeitiger Geringschätzung der Migranten. Denn sie suggerieren, dass Migranten politischen und ökonomischen Anreizen nahezu willenlos ausgesetzt seien. Als genüge es, an der einen oder anderen Stellschraube zu drehen, um Migration zu steuern.
Untersuchungen erzählen oft eine ganz andere Geschichte: Aus Befragungen von Menschen aus Ländern wie Syrien oder Eritrea geht zum Beispiel hervor, dass Migration alles andere als linear, berechenbar bzw. vorhersagbar abläuft. Entscheidungen von Migranten sind das Ergebnis eines Zusammenspiels von mehreren Faktoren – wovon die Einwanderungs- bzw. Flüchtlingspolitik der Zielländer nur ein Faktor ist und nicht einmal der bedeutendste.
Zudem handeln Migranten – wie wir alle – oft genug nicht entlang der Vorstellung eines wirtschaftlich denkenden Nutzenmaximierers. Zum Beispiel dann, wenn sie zur Erreichung ihres Ziels bereits viel Geld für Schlepper- und Schleuserdienste ausgegeben haben und sich weigern, dieses Geld als verloren zu betrachten (Verhaltensökonomen nennen dieses Phänomen „sunk cost fallacy“). Auch das mag erklären, warum Migranten selten auf halbem Wege aufgeben und hohe Risiken auf sich nehmen, um an ihr Ziel Europa zu gelangen. Sie haben schon so viel ausgegeben, da kommt Aufgeben nicht infrage. Der Sondergesandte des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) für das zentrale Mittelmeer, Vincent Cochetel, sprach in diesem Zusammenhang von einer „Radikalisierung von Migrationsträumen“.
Natürlich trifft die Rede von der Sogwirkung einen Nerv: Es geht um das Bedürfnis, Zusammenhänge, Sinn und Kausalität in das unübersichtliche Migrationsgeschehen der letzten Jahre zu bringen. Es geht auch darum, Verantwortliche zu identifizieren und haftbar für ihr Fehlverhalten zu machen. Belegt sind die Sogwirkung-Vorwürfe jedoch kaum. Ein Faktencheck:
- These 1: Die wollen es sich bei uns bequem machen
Kann ein vergleichsweise großzügig ausgestalteter Sozialstaat als ‚Magnet‘ für Migranten wirken? Tatsächlich wird den Flüchtlingen aus Afrika und dem Nahen Osten gern unterstellt, es gehe ihnen hauptsächlich darum, in den Genuss von Sozialleistungen zu kommen. Nachweislich haben vor allem Netzwerkeffekte einen großen Einfluss auf die Wahl des Zuwanderungslands. Das heißt: Migranten lassen sich insbesondere dort nieder, wo bereits Freunde und Verwandte leben. Und selbst wenn Flüchtlinge so kühl berechnend denken und handeln würden, wie es AfD-Politiker gerne annehmen, scheint es wenig plausibel, dass sie all die großen Gefahren und erheblichen Kosten der Migration auf sich nehmen, um in den Genuss der Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu kommen.
Wahrscheinlicher wäre da eine Sogwirkung des deutschen Sozialstaats auf Einwanderer aus EU-Ländern, die geringere Migrationskosten tragen müssen. Doch auch diese ist zweifelhaft. So hat die Senkung von Sozialleistungen in den nordeuropäischen Staaten seit Ende der Neunzigerjahre keine signifikante Auswirkung auf die Zahl der Asylantragsteller gehabt. Dagegen sind südeuropäische Staaten wie Italien mit traditionell weniger umfassenden sozialen Leistungen zum Ziel von (insbesondere osteuropäischer) Migration geworden.
Tatsächlich ist für Einwanderer vor allem eines wichtig: Arbeit bzw. höhere Löhne. Wie sonst kann man erklären, dass Hunderttausende ausländische Bauarbeiter unter teilweise lebensgefährlichen Bedingungen auf Baustellen in den Golfstaaten arbeiten? Ganz sicher nicht wegen der Sozialleistungen, die sie dort nicht erhalten.
- These 2: Die kommen alle, weil Merkel sie eingeladen hat
Manchmal bedarf es noch weniger als Sozialleistungen, um eine Sogwirkung unter Flüchtlingen zu entfalten. Es reicht die Zusicherung, nicht an der Grenze abgewiesen zu werden. Die These ist bekannt: Merkels Entscheidung, die Grenze für Flüchtlinge, die im Herbst 2015 in Budapest auf dem Bahnhof kampierten, nicht zu schließen, habe einen gewaltigen Pull-Effekt ausgelöst. Selbst der renommierte britische Ökonom Paul Collier kreidete der Kanzlerin an, mit ihrer Willkommenskultur ein Signal in die Welt ausgesendet zu haben, Deutschland stehe für jeden offen.
Wissenschaftliche Belege für diese Behauptungen sucht man indes vergebens. Als Beleg wird lediglich die zeitliche Abfolge der Ereignisse angeführt: Nach Merkels Entscheidung stieg die Zahl der Ankömmlinge deutlich. Das wird niemand bezweifeln. Doch woher wissen wir, ob es sich dabei um einen ursächlichen Zusammenhang handelt?
Um herauszufinden, ob sich Flüchtlinge tatsächlich nach Merkels Bekundungen auf dem Weg nach Deutschland gemacht haben, untersuchten Journalisten der Zeitung „Die Zeit“ die Zahl der Ankünfte in Griechenland (das erste Land auf der Balkanroute) im Jahr 2015. Was dabei deutlich wurde: Die Zahl der Flüchtlinge stieg schon im März und erreichte zwischen Juli und August ihren Höhepunkt, also deutlich vor Merkels Entschluss. „Diese Menschen hatten nicht auf eine Einladung Merkels gewartet. Sie waren aus eigenem Entschluss losgezogen“.
Merkel zu unterstellen, sie habe eine Sogwirkung entfaltet, ist dabei nicht nur falsch, sondern überschätzt auch die Möglichkeiten von Politikern, die Entscheidungen von Migranten zu beeinflussen und steuern. Denn aus der Untersuchung geht auch hervor: Merkels Aussagen lösten in der syrischen Bevölkerung weitaus weniger Echo aus, als vielfach angenommen.
- These 3: Der UN-Migrationspakt wird eine Invasion auslösen
Der UN-Migrationspakt rangiert in der Unbeliebtheitsskala der deutschen Migrationskritiker ungefähr so weit oben wie Merkels Willkommenskultur. Der Herausgeber der Tageszeitung „Die Welt“, Stefan Aust, behauptete im November letzten Jahres, dass die Sogwirkung des Pakts mindestens so groß sei „wie die der Willkommenskultur im Herbst 2015 inklusive der Selfies mit Kanzlerin“.
Auch AfD-Politiker überboten sich gegenseitig mit apokalyptischen Szenarien. Von „Invasion“ und einem versteckten „Umsiedlungsprogramm für Wirtschafts- und Armutsflüchtlinge“ war die Rede. Inzwischen ist der Migrationspakt mehr als ein halbes Jahr in Kraft. Passiert ist – wenig bis nichts. Der große Sog ist jedenfalls ausgeblieben. Die Zahl ankommender Flüchtlinge ist in den meisten Ländern Europas rückläufig.
- These 4: Seenotrettung lockt Flüchtlinge aufs Meer
Und dann wäre da noch der Vorwurf an die private Seenotrettung, die polemisch als „Taxi für Flüchtlinge“ bezeichnet wurde. Der Vorwurf kann sich genauso gut gegen die staatliche Seenotrettung richten – auch sie steht im Sogwirkungsverdacht. Zur Ehrenrettung der im Mittelmeer operierenden Hilfsorganisationen hat der italienische Migrationsforscher Matteo Villa jüngst Zahlen vorgelegt, die keinen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Bootsflüchtlinge und der Anzahl der NGO-Schiffe aufzeigen.
Auch steht der Verdacht im Raum, dass staatliche Rettungsmissionen wie zum Beispiel „Mare Nostrum“ Menschen zur Flucht verleitet haben. Verlässliche Daten, die diesen Befund erhärten, fehlen jedoch. Es stellt sich zudem die Frage, ob der angebliche Pull-Faktor von Rettungsmissionen überschätzt wird bzw. in einem Missverhältnis zu den sog. Push-Faktoren steht, die Menschen dazu bewegen, Libyen zu verlassen. Dazu muss man sich vor Augen führen, dass eine höhere Zahl an Überfahrten auch auf Faktoren im Transitland Libyen zurückgeführt werden kann. Zum Beispiel die Anzahl oder Dichte der im Land lebenden Flüchtlinge oder die kriegsbedingte Verschlechterung von deren Lebensbedingungen.
Um vorschnellen Schlussfolgerungen vorzubeugen: Sogwirkungsargumente sind nicht exklusiv Migrationskritikern vorbehalten. Sie können auch zur Kritik von Einwanderungsbeschränkungen eingesetzt werden. So bedienten sich Kritiker des EU-Türkei-Abkommens (auch „Flüchtlingsdeal“ genannt) einer ähnlichen Logik, als sie argumentierten, das Abkommen könnte zu einer Art Torschlusspanik führen und den Zustrom an Flüchtlingen deutlich anwachsen lassen. Klingt plausibel. Bloß: eine bedeutende Zunahme war auch in diesem Fall nicht feststellbar.
Zum Autor:
Oliviero Angeli lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden und ist wissenschaftlicher Koordinator des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM). Er ist Autor von „Migration und Demokratie. Ein Spannungsverhältnis“ (erschienen 2018 beim Reclam Verlag). Twitter: @AngeliOliviero
Titelbild: Hannah Wallace Bowman/ MSF/ SOS Mediterranee